Das Wort „Hypervigilanz“ beschreibt einen Zustand von erhöhter Empfänglichkeit der Sinne, begleitet von einer gesteigerten Intensität an Verhaltensweisen, die das Ziel haben potentielle Gefahren zu entdecken. Das können beispielsweise gesteigerte Angst, extreme erhöhte Erregung, gesteigerte Reaktion auf externe Reize und ein kontinuierliches Scannen der Umgebung nach eventuellen Gefahren und als Resultat dieser Verhaltensweisen komplette Erschöpfung sein.
Wenn du dich bereits mit dem Thema Hochsensibilität auseinandergesetzt hast, dann wird dir aufgefallen sein, dass sich einige Merkmale der Hochsensibilität mit denen der Hypervigilanz decken:
- Die Art und Weise, wie Hochsensible Reize verarbeiten
- Überstimulation
- Emotionales Reagieren und Empathie
- Das Fühlen von feinsten Nuancen
Woher kommt Hypervigilanz und weshalb neigen hochsensible Menschen dazu?
Hypervigilanz ist neben der Dissoziation/Freeze eine Reaktion unseres Nervensystems auf Trauma. Dabei manifestiert sich Trauma oftmals als eine Kombination dieser beiden Zustände in unserem Körper, zwischen denen unser Nervensystem beliebig hin und her schaltet. (Wenn du mehr über die Funktionsweise des menschlichen Nervensystems wissen möchtest, empfehle ich dir meinen Artikel zum Thema Nervensystem und Polyvagaltheorie. Der Begriff Trauma bezieht sich dabei nicht nur auf Schock-Trauma, wie beispielsweise Unfälle oder Kriegserlebnisse, sondern auch auf Entwicklungstrauma, das uns in unseren ersten Lebensjahren widerfahren ist. Dabei gilt auch der Grundsatz, dass Trauma auch das sein kann, was NICHT stattfand, wie beispielsweise das Ausbleiben emotionaler Nähe.
Alle Menschen, die hochsensibel geboren wurden, sind durch ihre Hochsensibilität anfälliger durch das Ausbleiben emotionaler Nähe in ihren ersten Lebensmonaten/-jahren traumatisiert zu werden. Es gibt also eine direkte Verbindung zwischen Hochsensibilität, emotionaler Vernachlässigung und dem Entstehen von Trauma im eigenen Körper.
Als Babies und kleine Kinder sind wir auf unsere Eltern oder Betreuer angewiesen, um zu überleben. Wir haben einen Instinkt alles zu tun, um unsere Versorger in unserer Nähe zu halten. Wenn unsere betreuenden Personen depressiv, ängstlich, gestresst, unsicher oder emotional komplett abwesend sind, dann passt sich das Baby oder Kleinkind automatisch an, indem es seine eigenen Bedürfnisse vernachlässigt und sich stattdessen vollständig auf die Bedürfnisse seiner Versorger einstellt. Selbstverständlich geschieht dies unbewusst und sehr früh im Leben des Kindes. Vor allem hochsensible Babies sind extrem auf die Gesichtsausdrücke und das emotionale Feedback, dass sie von ihren betreuenden Personen erhalten eingestimmt. Durch diese emotionale Einstimmung auf ihr Gegenüber, versuchen sie ihre Umwelt und ihren eigenen Platz darin zu verstehen. Babys verwenden das Gesicht ihrer Fürsorger als Spiegel und lernen dadurch, wer sie sind. Wenn das Baby Ärger, Genervtheit, Ekel, Wut, Angst oder Apathie oft genug in seinem Gegenüber wahrnimmt, dann glaubt es irgendwann, dass es selbst die Quelle dieser benannten Emotionen ist und hört im schlimmsten Fall auf die eigenen Bedürfnisse zu kommunizieren. Es hört dann ggf. auf zu schreien, wenn es hungrig ist oder einen Windelwechsel braucht oder es kann sich in den Armen des Betreuers nicht mehr „fallen lassen“, da es sich nicht mehr sicher fühlt. Stell dir vor du würdest Trost bei jemandem suchen, der extrem ängstlich oder extrem frustriert oder emotional nicht anwesend ist. Wie würde sich das für dich anfühlen? Du kannst dir sicher vorstellen, dass es nahezu unmöglich ist, von jemandem beruhigt zu werden, der nicht selbst in sich ruhig ist. Kleinkinder entwickeln deshalb sogar unbewusst Strategien, mit denen sie versuchen sich um ihre emotional nicht verfügbaren Versorger zu kümmern, um diese auf irgendeine Art und Weise endlich verfügbar zu machen: Wenn ich mich immer anstrenge und alles perfekt mache, vielleicht wird Mami, dann nicht mehr wütend sein. Wenn ich keine Bedürfnisse mehr habe, vielleicht muss ich dann nicht mehr leiden. Wenn ich Mami dabei helfe, dass es ihr besser geht, wird sie mich dann lieben? Wenn ich keine Fehler mehr mache, dann wird vielleicht alles gut.
So entstehen also schwerwiegende Glaubenssätze, die unser Leben bestimmen können, in frühester Kindheit.
Von der Überstimulation zur Hypervigilanz
Hochsensible Babies empfinden helles Licht, laute Geräusche, Schreien, Ärger oder grobe Bewegungen oft als Überstimulation, der Überwältigung, Hypervigilanz und sogar den Freeze-Modus unseres Nervensystems herbeiführen kann.
Entgegen der weitverbreiteten Meinung, dass Babies keine Erinnerung an Erlebnisse aus ihren ersten Lebensmonaten oder -jahren haben, sind Babies besonders empfänglich für jede Art von Erlebnis und erinnern jedes kleine Detail in den Zellen ihres Körpers, ihres Nervensystems und ihrem unterbewussten, vorsprachlichen Erinnerungen. Alle Kinder brauchen ein Gefühl der Sicherheit, um sich gut zu entwickeln. Für hochsensible Kinder, kann es noch schwerer sein dieses Gefühl von Sicherheit zu erlangen. Wenn Zuhause kein Ort der Sicherheit und Geborgenheit ist, wenn ihnen niemand zeigt wie besonders, beschützt und gewertschätzt sie sind, dann nehmen Kinder diese Erfahrung mit in das Erwachsenenleben.
Viele Menschen, vor allem Hochsensible, verbringen ihr Leben, ohne zu wissen, wie emotionale Vernachlässigung zu ihren Symptomen wie Angst, Depression, Perfektionismus, Süchten, Essstörungen und Aufmerksamkeitsdefizitstörungen und so weiter beigetragen hat.
Als hochsensibler Erwachsener, denkst du vielleicht immer noch, wie auch schon als Kind, dass etwas mit dir nicht stimmt. Dabei sind diese Symptome eine normale Reaktion auf traumatische Erfahrungen in der Kindheit und ein Weg mit diesen Erfahrungen umzugehen. Wenn wir als Babies nicht genug von dem bekommen, was wir emotional bräuchten, wenn wir nicht ausreichend umarmt werden, nicht die Liebe unserer Eltern für uns in ihren Augen sehen, wenn wir viel Zeit allein verbrachten, uns oft allein und ängstlich fühlten, dann ist es kein Wunder, dass wir irgendwann den Glaubenssatz entwickeln, dass wir nicht liebenswert sind und dass die Welt kein sicherer Ort ist. Wenn unser Nervensystem, die Welt also grundsätzlich für keinen sicheren Ort hält, ist es ständig im Übererregungszustand, wir werden hypervigilant, um jede noch so kleine Gefahr zu erkennen, damit wir sie rechtzeitig abwehren können.
Es ist also offensichtlich, dass hochsensible Menschen verstärkt zu Hypervigilanz neigen. Das Gute ist, du kannst lernen, wann genau du dich in einem Zustand der Hypervigilanz befindest, um anschließend gesündere Entscheidungen für dich und dein Umfeld zu treffen, statt einfach zu reagieren, wie du sonst auch immer reagieren würdest.
Wenn du mehr über dein Nervensystem und deinen Körper lernen möchtest, dich vielleicht sogar wieder mit ihm verbinden, ihn besser spüren lernen willst, dann melde dich hier für ein kostenloses Kennenlerngespräch zu meinen 1:1 Coaching Sessions an.